Montag, 1. April 2024

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Witzwil

Wie künstliche Intelligenz die Seeländer Aprilscherz-Fertigung unter Druck setzt

In den letzten Wochen ist die Aprilscherz-Produktion in der Justizvollzugsanstalt Witzwil wieder auf Hochdruck gelaufen. Doch Direktor Balz Bütikofer ist nicht zum Spassen zumute.

Tobias Graden    / Bieler Tagblatt - Ajour     Publiziert: 1. April , 06:00 Uhr

Der ausgestorbene Auerochse konnte wieder zum Leben erweckt werden. Ein Berner Schlagzeuger springt fürs Schweizer Konzert bei den Rolling Stones ein. Die Post wechselt ihre Farbe von Gelb zu Grün. Der Saharastaub wird eingesammelt und in die Ursprungsländer zurückgebracht. Die SBB testet einen Solarzug. Calanda bringt das Bier mit Bündnerfleisch-Geschmack. Flussdelphine im Rhein, Zürich ohne Ü-Pünktchen, die Kühlung der Aare auf maximal 20 Grad: Mit solchen Meldungen unterhalten die Schweizer Medien, aber auch andere Akteure wie Unternehmen oder Fussballklubs seit vielen Jahren ihr Publikum am 1. April. Die Tradition des Aprilscherzes ist aus der hiesigen Alltagskultur nicht mehr wegzudenken.
Was viele Menschen nicht wissen: Ein grosser Teil dieser Scherze stammt aus dem Seeland. Genauer: aus der Justizvollzugsanstalt (JVA) Witzwil. Dort können die Insassen an einem jeweils dreimonatigen Sonderprogramm teilnehmen und sich unter kundiger Anleitung im Verfassen von Aprilscherzen üben. Diese Scherze werden dann in der ganzen Schweiz zum Verkauf angeboten. «Seit Bestehen dieses Programms konnten wir unseren Anteil am Schweizer Aprilscherz-Markt auf über 50 Prozent steigern», verrät Balz Bütikofer, Direktor der JVA Witzwil.


 Balz Bütikofer, Direktor der JVA Witzwil (stehend), freut sich über gelungene Aprilscherze der Teilnehmer des ASAP-Programms. Quelle: Matthias Käser

Über 100 Scherze pro Jahr
Ins Leben gerufen wurde der Kurs unter dem Titel «Arbeitsagogisches Sonderprogramm Aprilscherz-Produktion» (ASAP) vor rund 15 Jahren von der damaligen Anstaltsleitung. Sie suchte eine zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeit für die Belegschaft im Winter. Denn die Arbeitsprogramme in Witzwil sind stark vom Landwirtschaftsbetrieb geprägt, und dieser gibt im Winter aus saisonalen Gründen weniger zu tun. In Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Literaturinstitut in Biel wurde darum ASAP entwickelt. Es beginnt jeweils im Januar und dauert bis Anfang April.
Das Programm sei eine eigentliche Win-win-win-Situation, sagt Bütikofer, also ein dreifacher Gewinn für die Beteiligten. Erstens werde den Insassen eine sinnvolle Beschäftigung im Winter geboten, die als Ergänzung zur landwirtschaftlichen Arbeit die Sprachkompetenz fördere und die Kreativität anrege – «auf dem Weg zur Resozialisierung sind dies wichtige Lernfelder». Zweitens könnten die am Programm beteiligten Dozierenden und Studierenden des Literaturinstituts ihren Horizont erweitern, «indem sie ausserhalb ihres akademischen Umfelds mit Menschen am Rande der Gesellschaft arbeiten». Und drittens sei die Kundschaft froh um die Dienstleistung aus Witzwil: «Mit der zunehmenden Konzentration haben gerade Medienhäuser immer weniger Kapazitäten, um selbst Aprilscherze zu schreiben. Viele Redaktionen haben ihre Aprilscherz-Ressorts zusammengestrichen. Da können wir einspringen», sagt Bütikofer. Mehr als 100 Scherze verlassen die Schreibwerkstatt jedes Jahr, insgesamt sind seit Bestehen des Programms mehr als 2000 Aprilscherze in Witzwil entstanden. 
Meta-Scherze kosten mehr
Auch das «Bieler Tagblatt» respektive Ajour hat in den vergangenen Jahren gute Erfahrungen mit dem Seeländer Aprilscherz-Anbieter gemacht, wie Andrea Butorin, Co-Chefredaktorin des «Bieler Tagblatts», bestätigt: «Mit Scherzen wie dem Badesee in der Campus-Baugrube, dem Swatch-Engagement für die Hirschhorn-Sculpture oder dem Einsatz von Krähen gegen streunende Hunde auf dem Strandboden haben wir unseren Leserinnen und Lesern dank Witzwil gute 1.-April-Unterhaltung bieten können.» Speziell erwähnt sie den Aprilscherz vom letzten Jahr. In diesem wurde behauptet, die Stadt Biel wolle eine Kommission ins Leben rufen, die Aprilscherze analysiere, um daraus Folgerungen für die Stadtentwicklung zu ziehen: «Da hat uns Witzwil sogar einen Meta-Scherz geliefert», so Butorin. Diese Kategorie Aprilscherz ist jedoch teurer, weswegen die Co-Chefredaktorin für dieses Jahr entschieden hat, auf einen solchen zu verzichten.
Allerdings, gibt Butorin zu bedenken, unterliege die Qualität der Witzwiler Scherze durchaus Schwankungen: «Die Meldung im Lockdown 2020, wonach die geschlossenen Coiffeure Schablonen zum Selbstfrisieren anbieten, war nun wirklich nicht sehr lustig.» Laut Direktor Balz Bütikofer liegt eine gewisse Qualitätstoleranz aber in der Natur der Sache: «Das ASAP-Team ist einer natürlichen Fluktuation unterworfen, weil die Beteiligten nach Verbüssen ihrer Strafe aus dem Vollzug entlassen werden. Darum ist es wie beim Wein: Nicht jeder Aprilscherz-Jahrgang kann gleich gut sein.»
Die Nachfrage geht zurück
Etwas anderes bereitet Bütikofer mehr Sorgen: «Die rasante Entwicklung von künstlicher Intelligenz droht das Geschäftsmodell der menschengemachten Scherzproduktion zu gefährden.» Da Aprilscherze in aller Regel nicht auf Recherchen basieren, sondern der Fantasie entspringen, ist es leichter als bei übrigen journalistischen Formaten, ihre Produktion an die künstliche Intelligenz auszulagern. Bereits 2023 sei der Bestelleingang leicht zurückgegangen, sagt Bütikofer, «und in diesem Jahr haben wir für fast 10 Prozent aller Scherze keine Abnehmer gefunden.» Allerdings könne dies auch daran liegen, dass der 1. April heuer auf den Ostermontag falle. Nicht verwertete Aprilscherze werden am späten Nachmittag des 1. April gratis abgegeben (maximal ein Scherz pro Person). 
Leonie Achtnich, Leiterin des Schweizerischen Literaturinstituts, ist sich der Herausforderung durch selbstlernende Computerprogramme für die Aprilscherz-Produktion im ASAP-Programm durchaus bewusst. Sie bezweifelt aber, dass KI von Menschen geschriebene Aprilscherze überflüssig macht: «Der Sinn für Humor und Ironie, Fantasie und Kreativität – das sind zutiefst menschliche Begabungen», sagt sie, «ich glaube nicht, dass der Computer in diesen Bereichen den Menschen übertreffen kann.» Mit einem guten Aprilscherz verhalte es sich wie mit einem schönen Liebesbrief: «Wer will diesen von einer Maschine geschrieben haben?»
Staatliche Konkurrenz?
Gleichwohl: Die JVA Witzwil hat bereits seit einiger Zeit begonnen, die Absatzmärkte für ihre Scherze zu diversifizieren. Sie beliefert mittlerweile auch Publikationen wie den «Nebelspalter», Formate wie «Spasspartout» oder auch einzelne Komikerinnen und Komiker für deren Bühnenprogramme. Namen kann Bütikofer keine nennen, «wir sind zu Diskretion verpflichtet». Vereinzelt wird denn auch Kritik geäussert. Seitens der Kampagne «Fair ist anders», welche die Konkurrenz der Privatwirtschaft durch staatliche oder halbstaatliche Akteure anprangert, äussert sich Co-Präsident Lars Guggisberg (SVP): «Die private Pointenproduktion durch die JVA Witzwil in Bedrängnis bringen? Das ist ein schlechter Scherz.»
Die Aprilscherz-Saison erreicht mit dem heutigen Tag ihren Höhepunkt, und damit neigt sich auch das diesjährige ASAP-Programm in Witzwil seinem Ende zu. Zum Abschluss erfolgt in den nächsten Tagen noch die traditionelle Evaluationswoche. «Wir analysieren, welche Scherze besonders gut angekommen sind, und ziehen daraus Lehren fürs nächste Jahr», sagt Leonie Achtnich. Sie und Anstaltsdirektor Bütikofer sagen überzeugt: «Mit konstant hohem Qualitätsbewusstsein werden wir uns auch im härter werdenden Aprilscherz-Wettbewerb halten können.»

Warum heisst es Witzwil?

Die JVA Witzwil liegt am äussersten westlichen Rand des Berner Seelands bei Ins, fast am Ufer des Neuenburgersees. Ihre Ländereien befinden sich rundum auf dem Gebiet der
Berner Gemeinden Erlach, Gampelen und Ins sowie der freiburgischen Gemeinde Mont-Vully. Das Land, das früher oft von Überschwemmungen heimgesucht worden war, konnte nach der Juragewässerkorrektion urbar gemacht werden. Weil das Terrain im Grenzgebiet verschiedener Gemeinden und damit auch verschiedener Bauernfamilien lag, trafen sich im ausgehenden 19. Jahrhundert dort am frühen Samstagabend die Bauern nach getaner Arbeit zum Feierabendbier. Neuigkeiten wurden ausgetauscht, es wurde getratscht, oft ging es auch lustig zu und her – besonders Kritik an der Obrigkeit wurde oft in Form von Witzen vorgetragen. So entstand im Volksmund der Name Witzwil für diesen Flecken Land im Grossen Moos. 
(tg)


 

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