Witzwil
Wie künstliche
Intelligenz die Seeländer Aprilscherz-Fertigung unter Druck setzt
In den letzten Wochen ist die Aprilscherz-Produktion in der Justizvollzugsanstalt Witzwil wieder auf Hochdruck gelaufen. Doch Direktor Balz Bütikofer ist nicht zum Spassen zumute.
/ Bieler Tagblatt - Ajour Publiziert: 1. April , 06:00 Uhr
Der ausgestorbene Auerochse konnte wieder zum Leben erweckt
werden. Ein Berner Schlagzeuger springt fürs Schweizer Konzert bei den Rolling
Stones ein. Die Post wechselt ihre Farbe von Gelb zu Grün. Der Saharastaub wird
eingesammelt und in die Ursprungsländer zurückgebracht. Die SBB testet einen
Solarzug. Calanda bringt das Bier mit Bündnerfleisch-Geschmack. Flussdelphine
im Rhein, Zürich ohne Ü-Pünktchen, die Kühlung der Aare auf maximal 20 Grad:
Mit solchen Meldungen unterhalten die Schweizer Medien, aber auch andere
Akteure wie Unternehmen oder Fussballklubs seit vielen Jahren ihr Publikum am
1. April. Die Tradition des Aprilscherzes ist aus der hiesigen Alltagskultur
nicht mehr wegzudenken.
Was viele Menschen nicht wissen: Ein grosser Teil
dieser Scherze stammt aus dem Seeland. Genauer: aus der Justizvollzugsanstalt
(JVA) Witzwil. Dort können die Insassen an einem jeweils dreimonatigen
Sonderprogramm teilnehmen und sich unter kundiger Anleitung im Verfassen von
Aprilscherzen üben. Diese Scherze werden dann in der ganzen Schweiz zum Verkauf
angeboten. «Seit Bestehen dieses Programms konnten wir unseren Anteil am
Schweizer Aprilscherz-Markt auf über 50 Prozent steigern», verrät Balz Bütikofer,
Direktor der JVA Witzwil.
Balz Bütikofer, Direktor der JVA Witzwil (stehend), freut sich über gelungene Aprilscherze der Teilnehmer des ASAP-Programms. Quelle: Matthias Käser
Ins Leben gerufen wurde der Kurs unter dem Titel
«Arbeitsagogisches Sonderprogramm Aprilscherz-Produktion» (ASAP) vor rund 15
Jahren von der damaligen Anstaltsleitung. Sie suchte eine zusätzliche
Beschäftigungsmöglichkeit für die Belegschaft im Winter. Denn die
Arbeitsprogramme in Witzwil sind stark vom Landwirtschaftsbetrieb geprägt, und
dieser gibt im Winter aus saisonalen Gründen weniger zu tun. In Zusammenarbeit
mit dem Schweizerischen Literaturinstitut in Biel wurde darum ASAP entwickelt.
Es beginnt jeweils im Januar und dauert bis Anfang April.
Das Programm sei eine eigentliche
Win-win-win-Situation, sagt Bütikofer, also ein dreifacher Gewinn für die
Beteiligten. Erstens werde den Insassen eine sinnvolle Beschäftigung im Winter
geboten, die als Ergänzung zur landwirtschaftlichen Arbeit die Sprachkompetenz
fördere und die Kreativität anrege – «auf dem Weg zur Resozialisierung sind
dies wichtige Lernfelder». Zweitens könnten die am Programm beteiligten
Dozierenden und Studierenden des Literaturinstituts ihren Horizont erweitern,
«indem sie ausserhalb ihres akademischen Umfelds mit Menschen am Rande der
Gesellschaft arbeiten». Und drittens sei die Kundschaft froh um die
Dienstleistung aus Witzwil: «Mit der zunehmenden Konzentration haben gerade
Medienhäuser immer weniger Kapazitäten, um selbst Aprilscherze zu schreiben.
Viele Redaktionen haben ihre Aprilscherz-Ressorts zusammengestrichen. Da können
wir einspringen», sagt Bütikofer. Mehr als 100 Scherze verlassen die
Schreibwerkstatt jedes Jahr, insgesamt sind seit Bestehen des Programms mehr
als 2000 Aprilscherze in Witzwil entstanden.
Meta-Scherze kosten mehr
Auch das «Bieler Tagblatt» respektive Ajour hat in den vergangenen Jahren gute
Erfahrungen mit dem Seeländer Aprilscherz-Anbieter gemacht, wie Andrea Butorin,
Co-Chefredaktorin des «Bieler Tagblatts», bestätigt: «Mit Scherzen wie dem
Badesee in der Campus-Baugrube, dem Swatch-Engagement für die
Hirschhorn-Sculpture oder dem Einsatz von Krähen gegen streunende Hunde auf dem
Strandboden haben wir unseren Leserinnen und Lesern dank Witzwil gute
1.-April-Unterhaltung bieten können.» Speziell erwähnt sie den Aprilscherz vom
letzten Jahr. In diesem wurde behauptet, die Stadt Biel wolle eine Kommission
ins Leben rufen, die Aprilscherze analysiere, um daraus Folgerungen für die
Stadtentwicklung zu ziehen: «Da hat uns Witzwil sogar einen Meta-Scherz
geliefert», so Butorin. Diese Kategorie Aprilscherz ist jedoch teurer, weswegen
die Co-Chefredaktorin für dieses Jahr entschieden hat, auf einen solchen zu
verzichten.
Allerdings, gibt Butorin zu bedenken, unterliege
die Qualität der Witzwiler Scherze durchaus Schwankungen: «Die Meldung im
Lockdown 2020, wonach die geschlossenen Coiffeure Schablonen zum
Selbstfrisieren anbieten, war nun wirklich nicht sehr lustig.» Laut Direktor
Balz Bütikofer liegt eine gewisse Qualitätstoleranz aber in der Natur der
Sache: «Das ASAP-Team ist einer natürlichen Fluktuation unterworfen, weil die
Beteiligten nach Verbüssen ihrer Strafe aus dem Vollzug entlassen werden. Darum
ist es wie beim Wein: Nicht jeder Aprilscherz-Jahrgang kann gleich gut sein.»
Die Nachfrage geht zurück
Etwas anderes bereitet Bütikofer mehr Sorgen: «Die rasante Entwicklung von
künstlicher Intelligenz droht das Geschäftsmodell der menschengemachten
Scherzproduktion zu gefährden.» Da Aprilscherze in aller Regel nicht auf
Recherchen basieren, sondern der Fantasie entspringen, ist es leichter als bei
übrigen journalistischen Formaten, ihre Produktion an die künstliche
Intelligenz auszulagern. Bereits 2023 sei der Bestelleingang leicht
zurückgegangen, sagt Bütikofer, «und in diesem Jahr haben wir für fast 10 Prozent
aller Scherze keine Abnehmer gefunden.» Allerdings könne dies auch daran
liegen, dass der 1. April heuer auf den Ostermontag falle. Nicht verwertete
Aprilscherze werden am späten Nachmittag des 1. April gratis abgegeben (maximal
ein Scherz pro Person).
Leonie Achtnich, Leiterin des Schweizerischen
Literaturinstituts, ist sich der Herausforderung durch selbstlernende
Computerprogramme für die Aprilscherz-Produktion im ASAP-Programm durchaus
bewusst. Sie bezweifelt aber, dass KI von Menschen geschriebene Aprilscherze
überflüssig macht: «Der Sinn für Humor und Ironie, Fantasie und Kreativität –
das sind zutiefst menschliche Begabungen», sagt sie, «ich glaube nicht, dass
der Computer in diesen Bereichen den Menschen übertreffen kann.» Mit einem
guten Aprilscherz verhalte es sich wie mit einem schönen Liebesbrief: «Wer will
diesen von einer Maschine geschrieben haben?»
Staatliche Konkurrenz?
Gleichwohl: Die JVA Witzwil hat bereits seit einiger Zeit begonnen, die
Absatzmärkte für ihre Scherze zu diversifizieren. Sie beliefert mittlerweile
auch Publikationen wie den «Nebelspalter», Formate wie «Spasspartout» oder auch
einzelne Komikerinnen und Komiker für deren Bühnenprogramme. Namen kann
Bütikofer keine nennen, «wir sind zu Diskretion verpflichtet». Vereinzelt wird
denn auch Kritik geäussert. Seitens der Kampagne «Fair ist anders», welche die
Konkurrenz der Privatwirtschaft durch staatliche oder halbstaatliche Akteure
anprangert, äussert sich Co-Präsident Lars Guggisberg (SVP): «Die private
Pointenproduktion durch die JVA Witzwil in Bedrängnis bringen? Das ist ein
schlechter Scherz.»
Die Aprilscherz-Saison erreicht mit dem heutigen
Tag ihren Höhepunkt, und damit neigt sich auch das diesjährige ASAP-Programm in
Witzwil seinem Ende zu. Zum Abschluss erfolgt in den nächsten Tagen noch die
traditionelle Evaluationswoche. «Wir analysieren, welche Scherze besonders gut
angekommen sind, und ziehen daraus Lehren fürs nächste Jahr», sagt Leonie
Achtnich. Sie und Anstaltsdirektor Bütikofer sagen überzeugt: «Mit konstant
hohem Qualitätsbewusstsein werden wir uns auch im härter werdenden Aprilscherz-Wettbewerb
halten können.»
Die JVA
Witzwil liegt am äussersten westlichen Rand des Berner Seelands bei Ins, fast
am Ufer des Neuenburgersees. Ihre Ländereien befinden sich rundum auf dem
Gebiet der
Berner Gemeinden Erlach, Gampelen und Ins sowie der freiburgischen Gemeinde
Mont-Vully. Das Land, das früher oft von Überschwemmungen heimgesucht worden
war, konnte nach der Juragewässerkorrektion urbar gemacht werden. Weil das
Terrain im Grenzgebiet verschiedener Gemeinden und damit auch verschiedener
Bauernfamilien lag, trafen sich im ausgehenden 19. Jahrhundert dort am frühen
Samstagabend die Bauern nach getaner Arbeit zum Feierabendbier. Neuigkeiten
wurden ausgetauscht, es wurde getratscht, oft ging es auch lustig zu und her –
besonders Kritik an der Obrigkeit wurde oft in Form von Witzen vorgetragen. So
entstand im Volksmund der Name Witzwil für diesen Flecken Land im Grossen Moos. (tg)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen